Krisensituationen sind Drucksituationen. Wenn alles läuft wie immer, dann kommt es selten zu schnellen Veränderungsprozessen in Organisationen. Wenn dann auf einmal schnell gehandelt werden muss, beschleunigen sich auch Veränderungsprozesse und neue Impulse führen zu neuen Herangehensweisen und Handlungsabläufen. Aber ist das immer so? Und wie nachhaltig sind solche Entwicklungen?
„Die letzten zwei Jahre haben uns gezeigt, wie agil wir in unserer Arbeit sind“, erklärt Elena Kraft, Pädagogin beim internationalen Jugendgemeinschaftsdienst (IJGD). „Auch im Krisenmoment waren Innovation und Wachstum möglich. Das ist ein guter Rückenwind für unsere Zukunft.“
Diese positive Bilanz ist ein Beispiel dafür, wie sich eine Krise und die daraus resultierende Drucksituation auf die Arbeit gemeinnütziger Organisationen auswirken kann. Doch welche Voraussetzungen braucht es, damit sich eine Organisation, die über Jahre in den gleichen Mustern gearbeitet hat, einer neuen, unvorhersehbaren Situation anpassen kann, in der gerade die Arbeit der Zivilgesellschaft gefragt ist? Wie verändern sich die Organisationen, und wie nachhaltig sind die Veränderungen?
Klar ist: Ist die Krise einmal da, egal ob Wirtschaftskrise, Naturkatastrophe oder Krieg, dann sind Handlungsfreudigkeit und Handlungsfähigkeit gefragt.
Veränderungsprozesse durch Drucksituationen
„Jedes System entwickelt im Laufe der Zeit eine gewisse Trägheit“, beschreibt Stephan Grünewald vom rheingold Institut in Köln. „Es entwickelt seine eigenen inneren Abläufe und arbeitet mit diesen so lange, wie sie funktionieren. Doch irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem das System mit diesen Abläufen nicht mehr adäquat agieren und auch reagieren kann. Oftmals stellt eine Krise einen solchen Zeitpunkt dar. Nun zeigt sich, wie flexibel ein System, in diesem Fall das einer Organisation, die eigenen Strukturen und Handlungsmuster anpassen muss.“
Laut ihm bedarf es eines gewissen Grades an Leidensdruck, damit Bewegung in das System kommt. „In den seltensten Fällen reicht eine einmalige Drucksituation, damit eine Veränderung eintritt. Erst wenn ein System mehrmals hintereinander erfährt, dass es mit den eigenen Strukturen nicht mehr für die Reaktion auf einwirkende Umweltfaktoren geeignet ist, setzen Veränderungsprozesse ein.“ Ein einmaliges Ereignis führt, wenn überhaupt, zu einer Anpassung. Diese wird zwar ad hoc durchgeführt, bleibt aber für die inneren Strukturen folgenlos.
Dauerkrise macht sich bemerkbar
Sich wiederholende und überschneidende Krisen erlebt die Weltbevölkerung nun seit mehr als zwei Jahren: Die Coronapandemie zeigt sich beispielsweise nicht als eine durchgängige Krise, sondern in unterschiedlich starken Wellen, die auf immer wieder neue Ausgangssituationen trafen und treffen. Stand die Menschheit dem Virus zur Zeit seiner ersten Ausbreitung noch relativ schutzlos gegenüber, trafen spätere Wellen auf eine zumindest zum Teil geimpfte Bevölkerung – auch, wenn das Virus sich selbst in der Zwischenzeit wieder verändert hatte.
Auf eine ohnehin angespannte Situation, in der die Wirtschaft nur durch staatliche Finanzhilfen überleben konnte, traf die Jahrhundertflut im Westen Deutschlands. Zu Beginn des Jahres 2022 zeigte die Inflationsrate mit dem Ende der Steuererleichterungen weiter nach oben, als die Zentralbanken es vorhergesehen hatten. Unter anderem deuteten Wirtschaftswissenschaftler*innen diese Tendenz als eine Folge der Währungskrise um das Jahr 2010 herum.
Der Krieg in der Ukraine wurde im Anschluss zum Ausgang einer europäischen Krise mit sowohl humanitären als auch sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Dimensionen. Momentan steht Europa, speziell Deutschland, vor einer enormen Preissteigerung in allen Lebensbereichen und muss sich gedanklich schon mit einer einschneidenden Energiekrise im Winter beschäftigen. Die Kaskade an Ausnahmesituationen scheint nicht abzureißen. „Diesen ‚Dauerkrisenmodus‘ merken wir durch alle unsere Zielgruppen“, beschreibt Marie Zellmann, Kommunikationsreferentin beim IJGD, die Situation in ihrer Organisation.
Druck schafft Veränderung
An der Flutkatastrophe zeigt sich beim IJGD, welche Veränderungskraft eine solche Ausnahmesituation mit sich bringen kann „In einer Krise mischt sich Unsicherheit mit Tatendrang. Da versuchen wir, Handlungsspielräume zu öffnen“, erklärt sie. „Konkret hat sich unmittelbar nach der Katastrophe beispielsweise eine Gruppe im Zusammenhang mit unseren Jugendbauhütten[1] formiert, die sofort ins Ahrtal reiste, um beim Wiederaufbau denkmalgeschützter Objekte mitzuwirken.“
Abläufe flexibel zu gestalten und so neue Wege einzuschlagen, sieht auch Stephan Grünewald als einen wichtigen Faktor. Solche Entwicklungen sind oftmals viel nachhaltiger, als man im ersten Moment denken mag.
„Es gibt vier Phasen, die ein System, in diesem Fall eine Organisation, durchläuft“, so der Diplom-Psychologe. „Am Anfang steht eine Pionierphase, daran anschließend kommt eine Phase der Konsolidierung der erarbeiteten und erfolgreichen Abläufe. Nach dieser Phase arbeiten Systeme über einen gewissen Zeitraum sehr stabil und erfolgreich in Phase Drei. Doch zuletzt setzt eine Phase beschränkter Beweglichkeit ein“, beschreibt er.
Veränderungen in dieser „Dekadenzphase“ führen bestenfalls wieder zurück zu Phase Eins. Der Kreislauf beginnt von vorne. „Die Voraussetzung dafür ist, dass ein System den Leidensdruck auch wirklich annimmt. Tut es das nicht, nenne ich das ‚besinnungslose Betriebsamkeit‘. In diesem Zustand arbeitet ein System einfach weiter und steuert so auf seinen eigenen Kollaps zu“.
Neue Perspektiven einnehmen
Während der Flut im Ahrtal meldeten sich viele freiwillige Helfer*innen beim IJGD. „Der Wunsch nach Veränderung war groß bei den bestehenden, aber auch bei den neuen Freiwilligen“, erzählt Marie Zellmann. Elena Kraft resümiert: „Diese Freiwilligen konnten wir auch nachhaltig binden. Einige sind weiterhin in unserem Verein tätig.“ Dass diese Bindung gelungen ist, führt Marie Zellmann auf die Arbeitsgrundsätze des IJGD zurück: „Wir fördern ein solidarisches und vorurteilsfreies Miteinander sowie einen nachhaltigen Umgang mit der Erde.“
Aber was hat sich bei der Organisation Neues entwickelt, was es ohne Druck von außen vielleicht nicht gegeben hätte? „Uns ist es in den letzten zwei Jahren gelungen, einen völlig neuen Arbeitsbereich auf die Beine zu stellen – unseren Projektbereich ,connect-ju‘. Dort entwickeln wir Projekte und Veranstaltungen unter anderem zu den Themen Bildung für nachhaltige Entwicklung, demokratisches und soziales Lernen sowie Antirassismus und Antidiskriminierung.
Im Fokus steht auch das ‚Digitale Lernen‘“, erklärt Marie Zellmann. „Dieser neue Pfeiler unserer Arbeit lebt natürlich von dem Tatendrang unserer Freiwilligen und begeistert darüber hinaus auch neue Zielgruppen.“ Aus diesem Projektbereich sind neue Ideen entstanden, beispielsweise eine Müllsammelaktion sowie eine Spenden-Aktion für die Ukraine, so Elena Kraft.
Stephan Grünewald sieht einen solchen Veränderungs- und Anpassungswillen als essenzielles Element für das Überleben eines Systems: „Veränderungsresistenz durch Unwillen hat immer einen hohen Preis. Und der ist im schlimmsten Fall der Zerfall des Systems. Impulse sind dann wichtig. Neue, nicht betriebsblinde Menschen, die von außen in das System kommen, stellen einen wichtigen Faktor für die Veränderung dar. Sie bringen schlichtweg neue und wertvolle Perspektiven mit.“
Veränderungsbereitschaft
Die besagte Veränderungsresistenz kann diesen Impulsen in Härtefällen den Garaus machen. „Gerade lange gewachsene Systeme neigen zu einem Defizit bei der Veränderungsoffenheit“, verweist Stephan Grünewald auf die Unterschiede verschiedener Organisationen. Als Beispiel nennt er die Bundesrepublik Deutschland in ihrem momentanen Zustand: „Unter den 16 Jahren Angela Merkel lebten wir in einer Art ‚Auenland‘. Doch mit dieser Art können wir die jetzigen Krisen nicht lösen.“
Nun braucht es Beweglichkeit und die Bereitschaft, neue Ideen und Konzepte auszutesten. Doch die Unbeweglichkeit hat sich in der Bevölkerung kultiviert. Sich jetzt zu verändern und anzupassen, fällt ihr vergleichsweise schwer. Gleichzeitig ist die deutsche Geschichte für Grünewald ein Verweis darauf, wie Veränderungsoffenheit zu einem Motor für die Entwicklung eines Systems werden kann. „Deutschland ist auch deshalb ein Innovationsland, weil wir durch unsere vielen Nachbarstaaten verschiedensten Einflüssen ausgesetzt waren und sind. So kamen und kommen frische Ideen und Perspektiven ins Land.“
„Bei der Hilfe im Ahrtal hat uns die Agilität unserer Gruppen und die langjährige Zusammenarbeit mit unserem Kooperationspartner Deutsche Stiftung Denkmalschutz geholfen“, sagt Marie Zellmann. Zügig konnten Freiwillige in dem ländlichen Gebiet helfen, das sich über Nacht zu einer Krisenregion entwickelt hatte. Viele von ihnen bleiben dem IJGD auch nach der Krise treu. „Durch unsere Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben wir automatisch immer Kontakt zur Zielgruppe. Nur so kann unser Verein funktionieren, denn er lebt von dem Engagement junger Menschen“, so Elena Kraft.
Pionierphase erhalten
Stephan Grünewald nennt zwei Faktoren, die einen Einfluss auf die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit von Organisationen haben: „Zum einen gilt: Je jünger ein System ist, desto offener ist es für Veränderungen. Erwischt man Systeme vor der Konsolidierungsphase, kann man viel Einfluss auf sie nehmen. Zum anderen gilt: Erfolg macht satt. Ist kein Leidensdruck vorhanden, reagieren Systeme in der Regel überhaupt nicht auf Veränderungsinputs.“
Allerdings können auch ältere und erfolgreiche Organisationen Veränderungen erfahren – wichtig dafür ist, dass sie die innere Bereitschaft haben, sich dann anzupassen, wenn es der Erfüllung des eigenen Auftrags dient. Beim IJGD ist dieses Ethos vorhanden: „Auf das Engagement junger Menschen einzugehen, bedeutet für uns stetig zu reflektieren, zu wachsen und agil zu bleiben“, beschreibt Elena Kraft den Einfluss der jungen Generationen auf die Arbeit des IJGD. Vielleicht bleibt die Organisation aus Berlin, die 1949 gegründet wurde, so immer mit einem Bein in der Pionierphase …
Im Gespräch
- Stephan Grünewald, Gründer und Geschäftsführer des rheingold-Instituts für Markt-, Medien- und Kulturforschung
- Marie Zellmann, Kommunikationsreferentin beim Internationalen Jugendgemeinschaftsdienst (IJGD)
- Elena Kraft, Pädagogin beim Internationalen Jugendgemeinschaftsdienst (IJGD)
[1] Der IJGD organisiert seinen Freiwilligendienst in der Denkmalpflege in Einheiten, sogenannten Jugendbauhütten, angelehnt an die mittelalterliche Bauhütte. (Anm. d. Red.)
Quelle: FUNDStücke 3-2022