FUNDStücke

Von 6 Millionen Euro auf 90 Millionen Euro: Wie Unicef Spenden revolutionierte

„Ich sammle Augenblicke“

Die Anfänge beim Fundraising

35 Jahre lang hat Dieter Pool als Fundraiser gearbeitet und den Berufszweig in Deutschland entscheidend mitgeprägt: 25 Jahre bei Unicef und zehn Jahre bei Brot für die Welt / Diakonie Katastrophenhilfe. Seit August 2019 ist er im Ruhestand – aber fürs Fundraising brennt er nach wie vor.

GRÜN alpha (GAL): Sie haben 1985 mit dem Fundraising begonnen. Hieß das zu der Zeit schon so?

Dieter Pool (DP): Nein das hieß damals einfach „Spenden“. Und zu Beginn war es auch nicht unbedingt Fundraising. Ich war vorher Leiter einer Beratungsstelle für jugendliche Spätaussiedler*innen. Und dann habe ich mich auf eine Stelle beworben, die ich zufällig in der Zeitung sah, bei Unicef. Da ging es eher um Bildungsarbeit. Damals war die Organisation darauf ausgerichtet, Grußkarten zu verkaufen. Es gab niemanden, der für Spenden zuständig war. Das Geld kam einfach so. Unicef bekam damals sechs Millionen Euro Spenden und zwölf Millionen Euro aus dem Grußkartenverkauf, umgerechnet. Und als ich ging, waren es ungefähr 90 Millionen Euro Spenden. Das war nicht mein Verdienst, das war eine Teamleistung, zu der ich einen Teil beigetragen habe.

GAL: Durchaus ein Lebenswerk, auf das man stolz zurückblickt, oder?

DP: Insgesamt haben wir in dieser Zeitspanne rund dreieinhalb Milliarden Euro eingenommen. Das ist schon eine ziemliche Summe. Aber es war auch eine besondere Zeit … ich denke, heute ist das alles komplexer und professioneller.

Die Entwicklung von Unicef

GAL: Ja, es ist viel passiert. Sie haben eine völlig andere Organisation vorgefunden als die, die Sie später verlassen haben.

DP: Das stimmt. Wir haben als Team aus einer kleinen Organisation eine Organisation gestaltet, die heute wirklich eine politische und gesellschaftliche Größe darstellt. So etwas kann man meines Erachtens nicht allein mit Fundraising erreichen.

Ich habe damals meine Erfahrungen aus anderen Aktivitäten eingebracht – aus der Musik, dem politischen und dem sozialen Bereich. Damit habe ich das aufgebaut, was man Public Relations nennt. Dafür stehe ich ja auch, dass ich immer Kommunikation und Fundraising gemeinsam gesehen habe. Wir waren die ersten, die mit Prominenten als internationalen Botschafterinnen und Botschaftern gearbeitet haben. Das war mit Persönlichkeiten wie Sir Peter Ustinov, Harry Belafonte oder Audrey Hepburn extrem einfach, im Vergleich zu heute. Und man konnte auf dieser Basis Medienkooperationen angehen und sehr viel daraus lernen.

GAL: Sind Sie also gar nicht mit dem Ziel bei Unicef angetreten, den Spendenbereich auszubauen – sondern es hat sich organisch ergeben, weil Sie da Potenzial gesehen haben?

DP: Genau. Das erste, was ich 1989 gesagt habe, war: Wir kümmern uns überhaupt nicht um die Leute, die regelmäßig spenden! Und daraus ist dieses ganze Modell der Fördermitgliedschaft entstanden, das damals noch kaum Organisationen hatten. Meine Vorbilder waren Greenpeace und SOS Kinderdorf. Im Rückblick ist klar: Das war genau der richtige Weg, auf dem wir sehr früh unterwegs waren.

Heute wissen alle im Fundraising, dass es darum geht, möglichst viele regelmäßige Spenderinnen und Spender zu finden – ob man die jetzt Paten, Fördermitglieder oder wie auch immer nennt. Wenn ich jetzt, 30 Jahre später, sehe, was Unicef auch weltweit damit einnimmt … Das waren halt so Glücksfälle. Und die hat man nicht aus Büchern gelernt, sondern durchs Zuhören. Wir haben uns hineingedacht in die Menschen, wie sie ticken. Ich glaube, das war unsere Stärke.

Der Intuitive Weg zum modernen Fundraising

GAL: Also der Weg in das, was wir heute Fundraising nennen, war so eine Mischung aus Intuition, Zuhören und Abgucken?

DP: Genau. Und dann wurden mit mehr Einnahmen mehr Kollegen und Kolleginnen eingestellt – mit ihnen kam mehr Wissen an Bord. Menschen, die in den 90er Jahren auch schon mal bei anderen Organisationen gearbeitet hatten. Wir lernten als internationale Organisation von dem, was in England und Amerika passierte. Ich kann mich daran erinnern, dass wir 1990 oder 1991 die ersten Dinge in Richtung Testamentsversprechen gemacht haben. Die ersten Organisationen, die da aktiv waren, waren WWF, Greenpeace, Unicef … solche, die von ihren internationalen Kolleginnen und Kollegen lernen konnten.

GAL: Hat sich Ihre Motivation über die Jahre verändert?

DP: Nein. Ich habe bis zum letzten Tag absolut gebrannt für die Sachen, die ich gemacht habe. Meine Motivation war zum einen, dass ich einfach alles gut machen wollte, und zum anderen, dass ich für eine gute Sache arbeite, die hoffentlich einen größtmöglichen Nutzen hat. Aber es waren auch die Teams, dieses Miteinander – ich denke, dass das im NGO-Bereich eine wichtige Rolle spielt, warum Menschen dort arbeiten möchten. Dass es doch einen kooperativen Arbeitsstil gibt. Sicherlich menschelt es sehr, das darf man nicht unterschätzen.

Jedenfalls: Etwas neu zu gestalten, etwas neu aufzubauen, infrage zu stellen – den Antrieb habe ich vom ersten bis zum letzten Tag gehabt. Ich habe immer das Bündnis mit jungen Leuten gesucht, weil ich bei ihnen diese Kraft des Veränderungswillens, des Infrage-Stellens gesehen habe.

Work-Life-Balance im Fundraising

GAL: Waren Sie ein Workaholic oder haben Sie gut auf sich, Ihre Gesundheit, Ihre Freizeit, Ihr Privatleben und auf eine gewisse Balance geachtet, dass die Dinge in der Waage bleiben?

DP: Ich habe nie was in der Waage gehalten. Nein, es war eine Freude, es war nicht belastend. Balance hat es bei mir nicht gegeben, da habe ich nie drauf geachtet – zum Leidwesen meiner Familie. Oder zum Glück für meine Familie, man weiß es nicht (lacht).

GAL: Können Sie jetzt, im Ruhestand, damit aufhören?

DP: Ich mache beruflich schon noch verschiedene Dinge. Ich bringe die eine oder andere Sache zu Ende, ich berate jemanden in seiner Leitungsfunktion und ich mache mit einer kleinen Organisation einen Strategieprozess. Das Wesentliche für mich ist, dass ich das nicht mache, um Geld zu verdienen, sondern damit die anderen einen Nutzen davon haben. Ich würde sofort damit aufhören, wenn ich das Gefühl hätte, es bringt für die anderen nichts. Das ist meine Bedingung.

GAL: Das heißt, Sie sehen sich jetzt eher in einer Art Ratgeber-Funktion?

DP: Genau. Für Leute, die ich kenne und die einfach eine kurze Frage haben. Das ist zum Teil ehrenamtliches Engagement, denn in den 35 Jahren habe ich so viel Gutes erlebt – das möchte ich der Branche zurückgeben. Mein Anliegen ist es zum Beispiel, jungen Menschen zu helfen, in den Beruf hineinzukommen. Michael Urselmann hat mich als Professor an der FH in Köln darauf gebracht. Ich habe letztes Jahr zwei junge Berufsanfänger übernommen, habe ihnen aber klar gesagt: Wir machen Mentoring für ein Jahr und es liegt an euch, wie es dann läuft. Mit einer Kollegin bin ich außerdem in ganz intensivem Kontakt und berate sie zweimal wöchentlich zu der Phase, in der sie gerade ist.

Highlights…

GAL: Was würden Sie als Highlights Ihres Berufslebens beschreiben?

DP: Es gibt viele Dinge, die ich mal angefangen habe, die heute noch existieren. Ich hatte beispielsweise 1995, als Unicef 50 Jahre und das Magazin GEO 20 Jahre alt wurde, die Idee, auf GEO zuzugehen. Daraus ist GEOlino entstanden. Das ist bis heute ein erfolgreiches Kindermagazin mit einer Auflage von fast 250 000 Heften. Unicef ist immer noch involviert. Es sind inzwischen zwei Generationen damit aufgewachsen und die Unicef-Seiten sind immer noch die meistgelesenen. Das zeigt wieder die Verbindung zwischen Kommunikation und Fundraising.

Insgesamt ist mein Highlight, dass ich – so glaube ich – in den beiden Organisationen, in denen ich arbeiten durfte, einen großen Beitrag zu einem erfolgreichen Weg geleistet habe. Und dass ich bis heute noch in beide Organisationen hinein gute Kontakte pflege und dass meine Arbeit und meine Loyalität geachtet werden.

… und Lowlights einer beeindruckenden Karriere

GAL: Und was waren Lowlights?

DP: Der Tiefpunkt war die Unicef-Krise. Für mich war nicht das Problem, dass wir wirklich so viel falsch gemacht hätten, sondern, wie falsch wir uns in der Krise selbst verhalten haben – im Machtkampf der damaligen Vorsitzenden gegen den Geschäftsführer. Aber man hat natürlich am Ende viel gelernt, und Krisenkommunikation zu lernen ist kein Fehler. Ich glaube, dass Bücher einem das nicht beibringen können. Man muss natürlich auch lernen, mit seinen Wunden umzugehen, die man im Laufe der Jahre erlangt. Die Unicef-Krise war für mich sicherlich die größte Wunde.

Mich bewegt außerdem, wie ich mich teilweise gegenüber Kolleginnen und Kollegen verhalten habe. Heute denke ich manchmal an Situationen zurück und sage zu mir selbst: Da hättest du dich anders verhalten sollen. Da hättest du Menschen stärker fördern sollen. Ich frage mich, warum ich das damals nicht gesehen habe und warum ich nicht in der Lage war, Menschen noch einmal eine andere Tür zu öffnen.

Gar nicht beschäftigen mich hingegen vermeintliche Fundraising-Misserfolge. Ich denke, die wichtigsten drei Worte im Fundraising sind „Test, Test, Test“. Deshalb sind Misserfolge nicht gravierend. Man muss immer mutig sein. Je jünger ich war, desto mutiger war ich, das hat dann mit dem Alter abgenommen (lacht). Aber eigentlich habe ich bis zum Schluss versucht, allen möglichst viele Türen zu öffnen, die etwas versuchen wollten.

Pläne für den Ruhestand

GAL: Gibt es irgendetwas, das Sie sich während Ihres Berufslebens für Ihren Ruhestand vorgenommen haben?

DP: Ja, das ist bisher durch Corona leider ein bisschen auf der Strecke geblieben. Ich habe einige Kolleginnen und Kollegen angesprochen, die jetzt in den Ruhestand gegangen sind, um einen Senior-Expert-Kreis zu bilden. Der Gedanke ist, sich regelmäßig zu treffen und gemeinsam ein ehrenamtliches Engagement auf die Beine zu stellen. Ich habe den Kolleginnen und Kollegen gesagt: „Ihr habt dieser Branche so viel zu verdanken, ihr habt so viele wunderbare, erfolgreiche Jahre gehabt. Ihr solltet das zurückgeben. Lasst uns doch junge Menschen begleiten.“ Es geht mir um Mentoring für junge Studenten und Studentinnen aus dem Fundraising-Bereich. Es gibt an den Hochschulen immer wieder Aufgaben und Projekte, mit denen sie alleine gelassen werden, sodass am Ende nicht so viele umsetzbare Projekte herauskommen. Die jungen Leute in dieser Konzepterstellung zu begleiten, das ist die Idee. Diese Initiative könnten wir an die nächsten Generationen der Senioren übergeben. Ich habe schon die auf der Liste, die in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen.

Ein Rückblick – Was wäre, wenn?

GAL: Wenn Sie jetzt nochmal anfangen würden, was würden Sie anders machen?

DP: (… überlegt lang, schüttelt dann den Kopf:) Nee, ich bin ja eigentlich wie ein junges Fohlen da reingelaufen. Ich würde es wahrscheinlich wieder genauso machen. Entscheidend finde ich die innere Haltung. Man sollte allen Menschen, die nicht kraftvoll-positiv an Herausforderungen gehen, von diesem Berufsfeld abraten. Die grundsätzliche Haltung „Gehen wir’s an, probieren wir’s“ – die hatte ich damals und die habe ich heute noch.

Ich bin dankbar, dass ich so wundervolle Momente hatte. „Ich sammle Augenblicke.“ Das war mein letzter Satz beim Abschied, dieses Zitat von Heinrich Böll aus „Ansichten eines Clowns“ – So habe ich die 35 Jahre gesehen, und so sehe ich jetzt meinen Alltag.

 

Quelle: FUNDStücke 2-2021

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