Gefühlt jagt seit einiger Zeit eine Krise die nächste – und jede verlangt den Menschen immer mehr ab. Seit über zwei Jahren hat das Coronavirus unsere Gesellschaft fest im Griff, und erstaunlicherweise war die Spendenbereitschaft in dieser Zeit groß. Doch mit Kriegsbeginn in der Ukraine hat sich der Fokus verschoben. Sind Spender:innen nach so vielen gesellschaftlichen und humanitären Tiefschlägen des Spendens müde?
Wir leben in einem Zeitalter der Existenzangst. Sei es der Klimawandel, die hohe Inflation oder ein Krieg in Europa: Langfristige und akute Krisensituationen bringen Ängste mit sich, von denen wir nicht geahnt haben, dass wir sie einmal haben würden. Doch während die Menschen mehr denn je für sich selbst kämpfen müssen, mental wie finanziell, kämpfen sie auch weiterhin tapfer für andere.
Motivierte Spender:innen
Shoshanna Hillmann-Breuer ist Abteilungsleiterin für Public Relations und Fundraising bei Tierärzte ohne Grenzen und erzählt: „Seit letztem Jahr beobachten wir einen enormen Zuwachs an Spenden. 2022 ist bisher in Deutschland ein Rekordspendenjahr. Vor allem die vielen Spenden im Kontext des Ukrainekonflikts zeigen, dass es eine große Spendenbereitschaft gibt.“ Sie erlebt, dass die Menschen trotz allem weiterhin hochmotiviert sind, sich zu engagieren und ihren Teil zu leisten.
Auch Britta Janssen, die Gründerin und Geschäftsführerin der Fundraising-Agentur fundango, bemerkt den großen Spendenwillen. „Die Spendenbereitschaft für die Ukraine war und ist extrem hoch. Wir haben teilweise höhere Spendeneinnahmen gesehen als beim Hochwasser in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz 2021 – und schon da hatten wir Rekordsummen“, berichtet sie.
Shoshanna Hillmann-Breuer gibt allerdings zu bedenken: „Das Spendenverhalten ist zwar relativ stabil geblieben, aber es kostet wesentlich mehr Mühe, das Augenmerk auf andere Krisensituationen in der Welt zu richten oder die globalen Zusammenhänge des Ukrainekriegs darzustellen, zum Beispiel die Ernährungsunsicherheit.“
Spendenbereitschaft sinkt nicht
Die größte Herausforderung für gemeinnützige Organisationen in Deutschland ist es momentan, die Spendenwilligen daran zu erinnern, dass es noch eine Welt außerhalb ihrer Sorgen gibt, die weiterhin Hilfe braucht. Es erfordert viel Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl, sie dort abzuholen, wo sie gerade sind. Doch Britta Janssen entwarnt: „Die generelle Spendenbereitschaft sinkt bestimmt nicht.
Die Gruppe der aktivsten, älteren, gut situierten Spender:innen ist am wenigsten betroffen und kann die aktuelle Lage kompensieren.“ Sie ergänzt trotzdem: „Andere haben wegen der unsicheren finanziellen Situation weniger Möglichkeiten zu spenden oder halten sich bewusst zurück. Die Inflation und die Preissteigerungen, vor allem bei Energie und Lebensmitteln, betreffen viele Gruppen, besonders die mit den kleinsten Spenden.“
Janssen macht im Agenturgeschäft unter anderem die Erfahrung, dass es bei einzelnen Organisationen nicht nur einen allgemeinen Spendenrückgang, sondern auch vermehrte Kündigungen von Dauerspenden gibt. Ob das organisationsspezifische Ursachen hat oder ein allgemeiner Trend ist, kann sie noch nicht beurteilen. Trotzdem macht es sich bemerkbar, dass einige Spender:innen an vielen Ecken sparen, weil sie sich schlicht um sich selbst kümmern müssen.
Spendenverhalten verlagert sich
Britta Janssen weiß: „Meine Erfahrungen mit der Dotcom-Krise, 9/11, der Finanzkrise, Flüchtlingskrise und Corona haben mich gelehrt, dass es allenfalls temporäre Rückgänge, aber keine Rückgänge der Motivation und damit keinen grundlegenden Verhaltenswandel gibt.“
Sie betont allerdings auch, dass es durchaus krisenunabhängige, langfristige gesellschaftlicheTrends gibt, die die Spendenlandschaft verändern: „Demografie, Säkularisierung, gesellschaftlicheSpaltung“, bringt Janssen es auf den Punkt. „Manche Themen und Weltregionenhaben auch nicht mehr dieselbe Relevanz wie vor 30 Jahren, zum Beispiel Osteuropa oder Lateinamerika. Das hat für einzelne Organisationen sehr konkrete Folgen.“
Shoshanna Hillmann-Breuer nennt eine solche konkrete Folge der aktuellen Situation im Spendenbereich: „Die Spendenbereitschaft ist hoch, aber der Schwerpunkt verlagert sich – es wird zunehmend für kleinere regionale und nationale Hilfsprojekte gespendet. Krisen und Notstände, die Spender:innen nicht unmittelbar betreffen und die persönlich wie geografisch weiter entfernt sind, geraten immer mehr in Vergessenheit.“
Treu bleiben in der Krise
Vor allem der Krieg in der Ukraine sorgt in Deutschland und Europa für diesen Fokuswechsel.Gemeinnützige Organisationen merken, dass Hilfsprojekte ohne direkten Bezug zur Ukraine leiden. „Gerade in den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit und Umweltschutz wird das deutlich“, berichtet Britta Janssen. „Aber wir sehen auch Bereiche, die von den Schwankungen derAufmerksamkeitsökonomie kaum betroffen sind – zum Beispiel der Tierschutz.“
Viele Organisationen wollen trotz eigentlich abweichenden Satzungszwecks helfen und starten deswegen Projekte zur Ukrainehilfe. Doch sollten sie das? Shoshanna Hillmann-Breuer findet: „Eine Organisation – egal welche – sollte sich immer treu bleiben und an ihre Vision und Mission gebunden fühlen. Das steht an erster Stelle.“
Aber: „Sicherlich muss und sollte jede Organisation auch schauen, wo ihre Expertise liegt, welches Mandat sie hält, was ihre inhaltlichen Schwerpunkte und Netzwerke sind und wo sie effektiv und nachhaltig helfen kann. Wenn all das holistisch betrachtet wird, kann eine Portfolioänderung oder eine inhaltliche oder geografische Neuausrichtung durchaus sinnvoll sein. Aber man sollte immer seine Wurzeln im Blick behalten.“
Janssen warnt außerdem vor Heuchlern: „Es ist eine Gratwanderung: Wer vorher schon Projekte im betroffenen Land hatte, sollte die vorhandenen Kontakte nutzen, um sein Möglichstes zu tun. Aber es gibt auch Trittbrettfahrerei. Da werden Projekte aus der Taufe gehoben, nur um etwas fürs Fundraising zu haben“, findet sie klare Worte. „Das halte ich nicht nur für unethisch, sondern ich glaube auch, dass es Spender:innen irritiert, wenn ‚ihre‘ Organisation plötzlich auf Ukrainehilfe macht. NGOs sollen sich treu bleiben, Ruhe bewahren und weiter wie geplant vorgehen. Hektische Schwenke in der Kommunikation schaden am Ende nur.“ Dabei ist es gerade die Kommunikation mit den Spender:innen, die natürlich immer, aber vor allem im Moment so wichtig ist.
Spenderbindung
„Sachspenden gibt es generell immer viele, wenn es um akute Nothilfe geht und schnell eine Erstversorgung sichergestellt werden muss“, sagt Hillmann-Breuer. Janssen sieht das genauso – und findet darin große Chancen. „Solch eine Großlage mobilisiert eine Gesellschaft: Jede:r tut, was er oder sie kann, und spendet Zeit, Sachen oder eben Geld. Vieles läuft – wie auch schon bei der Flutkatastrophe – selbstorganisiert und liegt damit außerhalb des Einflussbereichs gemeinnütziger Organisationen. Wenn es gelänge, diese Engagierten gut einzubinden, würden der Dritte Sektor und auch das Spendenwesen langfristig enorm profitieren.“
Es ist also die Spender:innenbindung, die so immens wichtig ist. „Spender:innen neu zu gewinnen, wird etwas schwieriger werden, also rückt die Bindung noch stärker in den Fokus. Bei den Kleinspenden heißt es: Verständnis für niedrigere Beträge zeigen, Lastschriften pausieren, andere Engagementformen anbieten“, erklärt Janssen. „Ein solches Eingehen auf die Bedürfnisse der Spender:innen stärkt die Beziehung, auch wenn es kurzfristig finanziell wehtut.
Das ist immer noch besser, als langfristige Freundinnen und Freunde zu verlieren.“ Die Bedeutung von Middle Donors, Großspender:innen und einem ausgewogenen Fundraising-Mix steigt, ergänzt sie.
Anstieg der Spendenden
Unterm Strich sind Shoshanna Hillmann-Breuer und Britta Janssen sich einig: Spender:innen sind wahre Athlet:innen in ihrer Disziplin und noch lange nicht außer Atem. „Ich denke, wir werden 2022 erneut einen Anstieg der Zahl der Spendenden sehen“, prognostiziert Janssen und betontnochmal: „Die Herausforderung liegt in der Bindung: Gutes Reporting und eine konsistente Donor Journey sind ein Muss.“
Außerdem sagt sie voraus: „Im Massengeschäft erwarte ich mindestens stagnierende, vielleicht auch sinkende Durchschnittsspenden. Unternehmen werden ihre CSR-Aktivitäten vermutlich einschränken. Dagegen wird es bei Großspenden vermutlich keine großenVeränderungen geben.“
Auch Hillmann-Breuer schaut positiv in die Zukunft: „Als Spenden sammelnde Organisation müssen wir es mehr als je zuvor schaffen, eine emotionale Bindung zu unserer Community aufzubauen, authentisch zu bleiben und immer wieder für neue Einblicke und ‚Aha!‘- Momente sorgen. Und sicherlich müssen wir stärker als früher immer wieder beweisen, dass wir unsere Versprechen, die unsere Spender:nnen motivieren, auch wirklich in die Tat umsetzen.“ Sie ist zuversichtlich: „Die Organisationen, denen das gelingt, werden auch in Zukunft auf ihre Spender:innen zählen können.“
Quelle: FUNDStücke 3-2022