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Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Krisensituationen

Gesellschaft beschäftigen und die sie bewältigen muss. Der Soziologe und Verwaltungswissenschaftler Dr. Holger Backhaus-Maul vom Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) erklärt, wie die Gesellschaft in Krisen funktioniert und was sie gemeinsam bewirken kann.

 

GRÜN alpha (GAL): Was ist gesellschaftlicher Zusammenhalt, und wie definiert man das?

Dr. Holger Backhaus-Maul (HBM): Gesellschaftlicher Zusammenhalt lässt sich nicht ewig geltend, eindeutig und von allen geteilt definieren. Er ist eine Leerformel, die im Grunde immer wieder aufgerufen wird, wenn es darum geht, dass sich etwas in der Gesellschaft verändert, sich eine Krise andeutet. Es ist eigentlich eine politische Formel, die in bemerkenswerter Art und Weise von unterschiedlichen politischen Gruppierungen genutzt wird und fortlaufend aktualisiert und konkretisiert werden muss, um Unterschiedliches immer wieder auch zusammenzuführen.

 

GAL: Eint das die verschiedenen Lager tatsächlich, oder nehmen sie nur dasselbe Etikett, meinen aber in der Umsetzung etwas völlig anderes?

HBM: Wenn Sie wissenschaftlich nachfragen „Was bedeutet für Sie dieser Begriff?“, dann erhalten sie schon ganz unterschiedliche Deutungen. Es ist ein deutungsoffener Begriff, der immer in als krisenhaft erlebten Zeiten oder in Zeiten, in denen großer Veränderungsdruck besteht, aufgerufen wird. In der Auseinandersetzung darüber findet sich dann auch irgendwann zumeist das Gemeinsame.

 

GAL: Im FGZ werden an elf Standorten von wissenschaftlich Mitarbeitenden alle Facetten des gesellschaftlichen Zusammenhalts untersucht. Welche Vorstellung von gesellschaftlichem Zusammenhalt vertreten Sie?

HBM: Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist immer ein Aushandlungsgegenstand. Konflikt. Es ist nicht etwas, womit man sich wohlfühlt! Der Begriff legt es auf den ersten Blick ja nahe, dass es um Nettigkeiten geht. Gesellschaftlicher Zusammenhalt – da kann’s einem warm werden ums Herz. Nein, im FGZ wird das diskutiert als ein Begriff, der konflikthaft ist. Dabei geht’s um Auseinandersetzungen – argumentative, aber auch um Fremdenfeindlichkeit, Gewalt, Rassismus und Zersetzung von Gesellschaft.

 

Spendenmotiv: Selbsterkenntnisprozess

 

GAL: Erkennt man gesellschaftlichen Zusammenhalt auch daran, dass sich Menschen ehrenamtlich oder mit Spenden engagieren?

HBM: Ja! Uns interessieren in unserem Forschungsprojekt selbstverständlich nicht nur die Ideen oder die Vorstellungen, die Menschen haben von einer besseren Gesellschaft oder einem gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern auch reale Handlungspraktiken. Was tun die Beteiligten konkret, um den Zusammenhalt in einer konflikthaften, diversen, individualisierten und auseinanderstrebenden Gesellschaft zu stärken? Da leisten Spenden und tätiges Engagement einen konstruktiven Beitrag.

 

GAL: Wie kann das Engagement den Zusammenhalt konkret stärken?

HBM: Wir forschen im FGZ an Schulen und Hochschulen. Dort bleibt man oftmals im gleichen Milieu und kriegt von der Welt da draußen, von „den anderen“, kaum etwas mit. In einem Projekt trafen Schülerinnen auf gleichaltrige Frauen, die Kinder hatten. Es wurde deutlich, dass das für sie die erste Begegnung mit Gleichaltrigen war, die schon Kinder hatten. Sie hatten das vorher noch nie erlebt.

Daran kann man ganz gut sehen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass sich in einer heterogenen Gesellschaft die unterschiedlichen Milieus wirklich treffen. Das können wir an vielen Stellen im Engagement feststellen, dass der erste Kontakt mit Menschen mit Behinderung, mit Menschen, die alt sind, mit Menschen, die krank sind, im Engagement stattfindet. Also: Engagement bietet Instrumente und Möglichkeiten, um in einer heterogenen Gesellschaft milieuübergreifende Kontakte herzustellen.

 

GAL: Das kann also ein Fundraiser oder eine Fundraiserin gewährleisten – indem wir von anderen Menschen erzählen, wie es ihnen geht und warum es wichtig ist, sie zu unterstützen?

HBM: Ja, und ich würde dieses Argument, wenn ich Fundraiserin wäre, ein bisschen vom normativen Ballast entkleiden und den Zielgruppen deutlich machen, dass es nicht nur ihrem Gegenüber, sondern ihnen selbst auch etwas bringt. Denn es ist ja auch ein Selbsterkenntnisprozess, dass ich sehe: Wie geht es mir? Warum ist Demokratie, warum sind Rechts- und Sozialstaatlichkeit eigentlich wichtig? Und auf einmal haben abstrakte Begriffe, um die in der Welt gekämpft wird, reale Bedeutung.

 

Service Learning

 

GAL: Wäre denn aus Ihrer Sicht irgendeine Art der Verpflichtung zum gesellschaftlichen Engagement sinnvoll?

HBM: Eine Dienstpflicht halte ich für kein charmantes und kein freiheitliches Ansinnen, vor allen Dingen nicht für Jugendliche und junge Erwachsene. Viel wichtiger wäre es, gute Gelegenheiten zu bieten, Möglichkeiten zu eröffnen. Wenn man innerhalb des Studiums oder innerhalb der Schule attraktive Angebote bietet, gut vorbereitet und ins Curriculum eingebunden, die für Schüler*innen und Studierende interessant sind, wie das von uns untersuchte Service Learning, dann funktioniert das. Dann ist die Androhung von Zwang und Pflicht, mit der die Freiwilligkeit schwindet, obsolet.

 

GAL: Kommen wir nochmal zurück zu den Krisen – stärken sie das Engagement?

HBM: Als Soziologe würde ich sagen, nach der jetzigen Krise folgt die nächste Krise. Im Grunde ist ja gesellschaftliche Entwicklung immer auch ein Krisenmodus. Man kann das auch positiver formulieren und sagen: Das sind Veränderungen, Umbrüche, tiefgreifende Transformationsprozesse. Man könnte das Gefühl haben, dass das Tempo solcher Umbrüche schneller geworden ist, das ist sicherlich auch richtig. Wir beobachten schon – und das ist ein Lob, nicht nur an die deutsche Gesellschaft –, dass Krisen oder tiefgreifende Veränderungen kreative soziale Energien freisetzen.

Wir haben es jetzt stärker mit Phasen grundlegender Veränderung zu tun, in denen es nicht mit diesem leicht bräsigen Duktus des „Weiter so“ immer irgendwie weitergeht, sondern in denen Veränderungen fundamentaler Art angezeigt sind, im Lebensstil, im Umgang mit individuellen, kollektiven und generationalen Freiheitsspielräumen, wenn man etwa an das richtungweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Klimagesetzgebung des Bundes denkt.

 

GAL: Wie kann man Effekte des gesellschaftlichen Zusammenhalts messen? Was sind die Kriterien?

HBM: Im FGZ gibt es eine große Gruppe quantitativer Sozialforscher*innen, die das Thema Zusammenhalt vermessen. Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist ein Stück weit ein Kulturkampf um nachhaltige Lebensstile und Egomanie, um die Anerkennung von Diversity und die Zurückweisung einer Tyrannei von Intimität sowie die Auseinandersetzung mit polarisierenden und Gesellschaft zersetzen wollenden Gruppierungen.

Das ist nicht hinreichend messbar anhand von Indikatoren wie etwa Ausbildung, Einkommen und Familienstand, denn der Begriff gesellschaftlicher Zusammenhalt verweist auf die sozialen und kulturellen Grundlagen einer Gesellschaft, und um sie zu verstehen, sind qualitative Untersuchungen unabdingbar. Da geht es etwa um Entwicklungen in einzelnen Regionen, die als abgehängt gelten, in denen qualifizierte junge Frauen abgewandert sind und zurückgebliebene Männer mit sich und der Welt hadern. Das kann man messen und sollte es teilnehmend beobachten.

 

GAL: Sind die Veränderungen, die durch Krisen entstehen, nachhaltig? Oder verblasst das Engagement, wenn die Krisen nicht mehr akut sind?

HBM: Das hängt davon ab, welche Organisationsstrukturen sich entwickeln. Dadurch kann man Engagement beständiger machen. Wenn sich zum Beispiel ein Think Tank, eine Bürgerstiftung oder eine Freiwilligenagentur gründet, dann ist das keine Spontanaktion, sondern beständiges Engagement. Der Krieg in der Ukraine, so sieht es im Moment aus, wird vermutlich länger andauern, dementsprechend auch der Bedarf an kontinuierlichem Engagement.

Und da kommt es gerade darauf an, durch kluge Formen der Organisation Dinge dauerhaft zu thematisieren. Da denke ich nicht mal an klassische Vereine und Verbände. Aus der Sicht der Engagierten muss man sagen: Engagement ist etwas, das auch Ruhephasen braucht. Sie sehen das im Engagement mit Geflüchteten – die Beteiligten engagieren sich freiwillig gerne, aber man darf sie nicht ausbeuten und sie sich selbst auch nicht. Wenn man ihnen keine professionellen Strukturen an die Seite stellt, dann führt das zu Enttäuschung, und dadurch kann man auch Menschen für das Engagement verlieren. Engagement und Enttäuschung liegen eng beieinander.

 

GAL: Die Strukturen, mit denen man die Dinge auf Dauer stellen kann – können das auch etablierte, alt eingesessene Organisationen sein? Oder muss das immer zwingend eine neue Initiative sein, die da entsteht?

HBM: Nein, das muss nicht neu sein, aber klassische Organisationsformen sollten sich dringend erneuern. Wir sollten nicht immer nur in klassischen Strukturen, einer Rechts- und Organisationsform mit Vorsitzenden und Vorständen, denken. Es geht vielmehr um Kommunikation, da bietet uns die Digitalisierung innovativste Möglichkeiten, um Engagement effektiver und effizienter zu organisieren. Kommunikation ist das Entscheidende. Sie darf nicht moralisch überlagert werden, sie darf nicht mit moralischem Druck funktionieren, sondern sie muss immer Freude, Spaß und Ernsthaftigkeit hinbekommen.

 

GAL: Wie sollte sich unsere Gesellschaft mit Veränderungen auseinandersetzen?

HBM: Wir brauchen eine wirklich ernsthafte Auseinandersetzung über geopolitische Fragen, über nationale Strategien im internationalen Kontext. Diese muss nicht nur in Elmau oder Davos, in geschlossenen Räumen mit geladenen Gästen geführt werden, sondern diese Gesellschaft ist vielerorts so klug, dass man diese Auseinandersetzung öffentlich führen kann, ja muss.

Es geht um grundlegende Fragen: Wie wollen wir leben? Welche Energiearten wollen wir nutzen? Welche Lasten entstehen für die nachwachsende Generation? Diese Auseinandersetzung müssen wir führen. Das ist die Verantwortung der Babyboomer-Generation. Leute, die überdurchschnittlich gut gebildet und demokratieerfahren sind, die von den vergangenen Jahren und Jahrzehnten profitiert haben. Natürlich war es bequem, sich in den Jahren von Frau Merkel, Herrn Schröder und Herrn Kohl zu sagen: Weiter so, das läuft, man kann seiner beruflichen Beschäftigung ungestört nachgehen – aber das war trügerisch.

 

Veränderungsbereitschaft muss vorhanden sein 

 

GAL: Was wir lernen sollten, ist, dass wir miteinander ins Gespräch kommen? Die Generationen untereinander und die verschiedenen Interessengruppen?

HBM: Dass wir miteinander streiten! Eine grundlegende Auseinandersetzung. Es ist nicht nur dieses „Mal drüber reden“, das folgenlos bleibt, sondern Streit und Kontroverse. Was in der deutschen Diskussion fehlt, ist Provokation, Auseinandersetzung, Streit. Es gibt zu viel Langeweile, Beliebigkeit und Tatenlosigkeit. Für das andere steht eben auch das FGZ: die Auseinandersetzung und den Streit in zivilisierter Form.

 

GAL: Was würden Sie sagen, in welche Richtung sich die Gesellschaft schon entwickelt hat und wie es in der Zukunft weitergehen wird?

HBM: Die deutsche Gesellschaft ist dynamischer geworden, sie kommuniziert über sich, wirkt bisweilen überfordert und ist auf jeden Fall aufgeregter. Im Hinblick auf den gesellschaftlichen Zusammenhang bedeutet das: Wir haben keinen Talkshowbedarf, sondern einen mittlerweile akuten Entscheidungs -und Handlungsbedarf. Das sehen Sie bei der sozialökologischen Transformation.

Ich glaube, es geht im Kern nicht nur um ein „Schön, dass wir mal drüber geredet haben“, sondern es geht um Entscheidungen und Handlungen, nicht parteipolitische, sondern gesellschaftspolitische, mutige Entscheidungen. Der alte Modus des „Weiter so“, einer gemütlichen Republik, dessen bin ich mir sicher, diese Zeit ist jetzt vorbei. Das muss nicht schlimm sein. Und das setzt auch Veränderungsbereitschaft in der Bevölkerung voraus. Aber die ist, so qualitative und quantiative Befunde, sehr viel ausgeprägter als die manch einer etablierten Stimme.

 

Im Interview: Dr. Holger Backhaus-Maul, Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt

Quelle: FUNDStücke 3-2022

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